Digitale Dienste sind fester Bestandteil unseres Alltags – sei es die Warn-App auf dem Handy oder das Online-Portal der Stadtverwaltung. Doch wie barrierefrei sind diese Angebote wirklich für alle Menschen, insbesondere für Menschen mit Behinderungen? Wir veröffentlichen erstmals die Prüfgutachten der öffentlichen Stellen, die einen ernüchternden Einblick in die Realität digitaler Barrierefreiheit in Deutschland geben und deutlich machen, dass der Staat seine eigenen Gesetze in keinem einzigen Fall einhält. Bei der Umsetzung ist dringend Eile geboten, denn die entsprechenden Rechtsvorschriften gelten in vielen Fällen bereits seit dem Jahr 2002.
Gesetze sind da, die Umsetzung hinkt gewaltig
Eigentlich sollten staatliche digitale Angebote besonders zugänglich sein. Die EU-Richtlinie 2016/2102, umgesetzt in Deutschland durch das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) und die Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV 2.0), verpflichtet öffentliche Stellen, ihre Webseiten und mobilen Anwendungen barrierefrei zu gestalten. Die Verordnungen beziehen sich dabei auf internationale Standards wie die europäische Norm EN 301 549 und die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG).
Doch die Praxis zeigt oft ein anderes Bild: Zwar werden regelmäßig Prüfungen und Gutachten erstellt, aber daraus folgende Maßnahmen zur Beseitigung der Barrieren bleiben häufig aus oder werden nur unzureichend umgesetzt.
Wo der Staat versagt: Eine Mängelliste
Anhand zahlreicher Beispiele wird deutlich, wie staatliche Stellen häufig ihrer Verantwortung nicht gerecht werden:
- Ignorierte Prüfberichte: Viele Prüfberichte zur Barrierefreiheit landen ungenutzt in Schubladen, ohne dass die dokumentierten Mängel behoben werden. Beispiele hierfür sind das Bundeskriminalamt (BKA) und das Bundesinnenministerium (BMI).
- Fehlende Ressourcen und Kompetenz: Die Bundesfachstelle für Barrierefreiheit von Informationstechnik (BFIT-Bund) verfügt nicht über genügend Mitarbeitende, um die Einhaltung flächendeckend zu kontrollieren. Zudem fehlt es Behörden oft an eigenem Fachwissen, wie das Beispiel des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zeigt, das bei der Umsetzung Unterstützung benötigte.
- Scheinlösungen statt echter Barrierefreiheit: Einige Behörden setzen auf sogenannte "Accessibility Overlays", die echte Barrierefreiheit jedoch nicht sicherstellen und das Problem teilweise sogar verschärfen.
- Unwirksame Beschwerdestellen: Offizielle Beschwerdestellen bearbeiten Beschwerden oft nur langsam und ineffektiv. Im Jahr 2023 wurden beispielsweise in Sachsen nur zwei Beschwerdeverfahren bearbeitet, ohne dass das zugrundeliegende Problem gelöst wurde.
- Verantwortung abschieben: Staatliche Stellen verlassen sich vielfach auf externe Dienstleister, deren Qualität in Bezug auf Barrierefreiheit oft ebenfalls fragwürdig ist.
Warum ist das ein Problem?
Fehlende digitale Barrierefreiheit schließt Menschen mit Behinderungen von wichtigen Informationen und Dienstleistungen aus. Dies betrifft beispielsweise Katastrophenwarnungen, Antragsverfahren oder grundlegende Informationsangebote, auf die alle Menschen einen gleichberechtigten Anspruch haben.
Ein Funken Hoffnung? Der European Accessibility Act
Mit dem Inkrafttreten des European Accessibility Acts (EAA), der in Deutschland in Form des Barrierefreiheits-Stärkungsgesetzes (BFSG) umgesetzt ist, werden ab 2025 auch viele privatwirtschaftliche Unternehmen verpflichtet, ihre Angebote barrierefrei zu gestalten. Dadurch könnte der Druck auf Alle steigen und die digitale Barrierefreiheit stärker ins öffentliche Bewusstsein rücken.
Was können wir tun?
Alle Bürger*innen sind gefragt:
- Beschwerden einreichen: Beschwerden über offizielle Wege erhöhen den Druck, denn sie landen in Statistiken, die gegebenenfalls in einer Vertragsstrafe der EU münden können.
- Barrierefreiheit einfordern: Probleme direkt bei den verantwortlichen Stellen ansprechen und konkrete Verbesserungen fordern.
- Öffentlich Aufmerksamkeit schaffen: Über das Thema sprechen, Erfahrungen teilen und Initiativen zur digitalen Inklusion unterstützen.
- Politische Entscheidungsträger*innen ansprechen: Politiker*innen auf die Missstände aufmerksam machen und sie auffordern, sich für digitale Barrierefreiheit einzusetzen.
- Bessere Gesetze fordern: Die bestehenden Gesetze müssen konsequent umgesetzt und dringend verschärft werden, um digitale Barrierefreiheit zu gewährleisten. Die Überwachungsstellen benötigen mehr Befugnisse, um öffentliche Stellen im Zweifelsfall zu sanktionieren.
Es ist höchste Zeit, dass staatliche Institutionen digitale Barrierefreiheit nicht nur als Pflicht, sondern als grundlegenden Bestandteil einer inklusiven Gesellschaft verstehen. Auf dieser Seite finden Sie gesammelt alle Prüfberichte der Bundesüberwachungsstelle für Barrierefreiheit, sodass Sie sich selbst ein umfassendes Bild machen können. Die BFIT Bund hat die Aufgabe, die Umsetzung der Barrierefreiheitsanforderungen zu überwachen und Beschwerden entgegenzunehmen. Sie kann jedoch keine rechtlich bindenden Sanktionen verhängen.